Neue Sanitäter für Hildesheim
Man kommt in einen Raum. Zwei Menschen, die eindeutig dem Puppenspielalter entwachsen sind, knien am Boden neben einer Puppe in Lebensgröße. Ihr fehlen Arme und Beine. Die eine Person drückt wie wild mit beiden Händen auf der Brust herum, während die andere Dinge aus einem Rucksack zieht. Außen herum an der Wand sitzen weitere Menschen auf Stühlen und schauen dem Ganzen äußerst interessiert zu.
Der Bericht einer Teilnehmerin.
In einer alltäglichen Situation wäre das ein absurder bis bedenklicher Anblick. Doch es ist nicht Alltag, es ist Sanitätslehrgang beim DRK.
Mitglieder der drei Kreisverbände Alfeld, Hildesheim-Marienburg und Hildesheim sind im Dienstgebäude im Brühl dafür zusammengekommen. Einige sind schon jahrelang dabei und machen den Lehrgang als Auffrischung, andere haben erst kürzlich zum Roten Kreuz gefunden. Alle sind sie Ehrenamtliche, manche konnten sich für die Zeit des Lehrgangs Bildungsurlaub nehmen, manche geben ihren Urlaub, ihre Ferien.
„Zeit ist Hirn!“, rät eine der ausgebildeten Rettungssanitäterinnen, die zur Unterstützung der Lehrgangsleitenden dabei ist. Ein Spruch aus dem Rettungsdienst. Wir investieren sechs Tage, acht Stunden am Tag, Zeit und Hirn. Wir lernen von Nasenbluten über Unterzuckerung und Verrenkungen bis hin zum Herzinfarkt eine Vielfalt an Dingen kennen, die dem Menschen zustoßen können.
Über den Beamer und auf Flipchartpapier aufgezeichnete Bilder erhalten wir eine Einführung in die menschliche Anatomie und die Funktionsweisen unseres Körpers. Es geht um den Aufbau des Herzens, den Blutkreislauf, unsere Knochen und Gelenke und noch viel mehr. In kleineren Gruppen erarbeiten wir dann Ursachen, Symptome, Gefahren und Maßnahmen für die möglichen Störungen bzw. Verletzungen des Organismus und präsentieren und besprechen sie in der Runde.
An Fallbeispielen, bei denen eine reale Person den Ernstfall simuliert, merken wir, dass die Theorie das eine, die praktische Anwendung jedoch noch etwas anderes ist. Doch im Laufe der Woche gewinnen wir merklich an Übung, an Routine. Soweit, dass am Freitag alle die Reanimationsprüfung bestehen. Obwohl manche, die bis Montag noch nie etwas von einem Larynxtubus gehört, geschweige denn einen gelegt hätten, ab und zu den Ausspruch äußersten: „Das schaff’ ich nie!“ Der Trick ist: Üben. Die Puppen bzw. Phantome wurden so viel wiederbelebt, dass es eigentlich eine Frechheit ist, dass es keine von ihnen geschafft hat.
Wir lernen das c-ABCDE, SAMPLER(S), FAST und PECH. So rätselhaft das erstmal klingt, sind das schlicht Schemata, die einem bei Notfällen die nötige Routine und Orientierung beim Vorgehen bieten sollen.
Die Reanimation lernen wir an Phantomen in Säuglings-, Kinder- und Erwachsenengröße. Als die Lehrgangleiterin die Säuglingsphantome austeilt, von denen es für alle Teilnehmenden eine eigene gibt und sie darüber hinaus auch noch im Besitz all ihrer Gliedmaßen sind (im Gegensatz zu den „erwachsenen“ Phantomen), wird die Gruppe stiller. Die Herz- und Lungenwiederbelebung üben wir für uns, während die Lehrgangsleitenden und ihre Unterstützung umher gehen, korrigieren und Anmerkungen machen. Nach und nach beenden wir alle die Reanimation, setzen uns wieder auf unsere Stühle und halten dabei die Säuglingsphantome, als wären sie echt. Manche haben sie bäuchlings über den Unterarm gelegt, andere halten sie in der Armbeuge oder auf dem Schoß. In den Gesichtern ist eine Mischung aus Amüsiertheit über den Anblick der Runde zu lesen und gleichzeitig Unbehagen über das Szenario, auf das wir uns vorbereiten. Von dem wir lieber hätten, es niemals zu erleben zu müssen und doch gewappnet sein wollen.
Abgesehen von der Reanimation üben wir an uns. Es wird viel Blutdruck gemessen und bei den Themen Verbände und Immobilisierung (z.B. mit Schienen) probieren wir an uns gegenseitig in Stationsarbeit aus. Es werden Kopfverbände, Ellbogenverbände, Druckverbände, Verbände an Wunden mit Fremdkörpern darin (bei uns ein Kugelschreiber, der zwischen die Finger gesteckt ist), Beinschiene, Armschiene und Vakuummatratze angelegt. Der Mülleimer in der Ecke füllt sich langsam bis über den Rand hinaus mit altem, abgelaufenem Verbandsmaterial, das in weiser Voraussicht genau dafür gesammelt und aufgehoben wurde.
Auch alte Infusionen sind in den Schränken zu finden und mit denen üben wir die Vorbereitung einer Infusion. Das eigentliche Legen eines intravenösen Zugangs ist für höher Qualifizierte. Wir sollen dabei assistieren können. Denn, und ebenso darüber reden wir, als Sanitäter und Sanitäterinnen können und dürfen wir nur bestimmte Dinge.
Auch körperlich anstrengend wird es mehrmals. Zum einen natürlich bei der Herzdruckmassage, die, macht man sie mehrere Minuten lang, durchaus den Schweiß auf die Stirn treibt. Als wir am Montag damit beginnen, macht der Lehrgangsleiter laut elektronische Musik an, damit wir den richtigen Rhythmus finden, und feuert im Takt wippend, beinahe tanzend an. Als eines der AED-Trainingsgeräte kurz anderweitig gebraucht wird, übernimmt er den Part und blüht auf in der Rolle eines Defibrillators.
Beim Thema Rettung und Transport, wird eine der Unterstützenden auf der Trage festgeschnallt und die enge gewundene Treppe (eine Herausforderung) hinunter zur Tür hinaus auf den Hof des DRK transportiert. Dort, im Sonnenschein, lernen wir die Kommandos des Trage Tragens und was dabei zu beachten ist. Eine kleine Route wird festgelegt, der wir folgen sollen, bis plötzlich ein Mülleimer als Hindernis vor uns auftaucht. Weil es keine geeignete Mauer gibt, muss die Tonne als Ersatz herhalten, ist dabei natürlich weder breit noch unbeweglich genug. Dafür könnten, wenn alles richtig verschnallt ist, Trage samt Person in die Tonne gesteckt werden, wird gewitzelt. Von der Trage kommt lautstarker Protest und wir heben sie lieber über die Tonne hinweg statt hinein.
Die Woche ist fordernd, sowohl für den Kopf als auch für den Körper. Doch wir werden rundum verpflegt von den Mitgliedern des DRK Hildesheim, die für den Lehrgang kochen. Jeden Morgen kommen sie noch vor uns in die Dienststelle, um uns mit heißen Kaffee und einem kleinen Frühstück, Mittagessen und später auch noch Kuchen hervorragenden zu verwöhnen.
Wie schon erwähnt, haben wir am Ende des Lehrgangs bereits einen Teil der Prüfung, die Reanimation, absolviert. Der Rest, die Theorie- und praktische Prüfung mit chirurgischen und internistischen Fallbeispielen, erwarten uns eine Woche darauf.
Am Ende des Tages gehen fast alle mit einem neuen Sanitäts-Abzeichen nach Hause. Manche werden die praktische Prüfung in ein paar Monaten wiederholen müssen. Der theoretische Teil wurde von allen erfolgreich abgeschlossen, aber das Wissen in die Praxis anzuwenden, ist etwas anderes.
Doch ob bestanden oder nicht, auf uns alle wartet dasselbe, wie uns bei der Übergabe der Bescheinigungen ans Herz gelegt wird: Erfahrungen sammeln und weiter üben. Als Sanitäter hat man eine gewisse Anzahl an Sanitätsdiensten und Fortbildungen im Jahr vorzuweisen. Es ist eben nicht wie Radfahren. Das Wissen und Können, das wir uns erarbeitet haben, will gepflegt und weiterentwickelt werden, sonst kann es verloren gehen. Es muss in Routine übergehen. Doch vor allem damit wir den Menschen unsere bestmögliche Hilfe leisten können. Denn darum geht es.
Allen, die für den Lehrgang Zeit und Hirn gegeben und ihn möglich gemacht haben, ein herzliches Dankeschön!
Text: R. von Mengershausen
Fotos: S. Ersu, U. Stillahn